Freitag, 13. Januar 2017

Charlottes Beisetzung







Unser erstes Treffen in 2017 fand wie immer am festgelegten Termin statt, dem 2. Dienstag in einem ungeraden Monat. Jedoch fuhren wir heute nicht - wie bei unserem letzten Treffen angekündigt - nach Solingen, sondern wir trafen uns in Grevenbroich, um uns von Charlotte Veiders ein letztes Mal zu verabschieden.

Die Totenfeier in der Christuskirche, bei der Liane Erdmann Westerhoff die Orgel spielte, wurde geprägt durch die Abschiedsreden von Paul Georg Wachten und Julian Scholz. Die zum Nachdenken anregenden und sehr bewegenden Worte, sind im folgenden noch einmal nachzulesen:



Kohelet 3, 1 – 8.

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,
eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,
eine Zeit zum Weinen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz,
eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennnähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,
eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.


Liebe Trauergemeinde,

Der Verfasser des Buches Kohelet im Alten Testament, aus dem der soeben zitierte Text stammt,  weist jedem Geschehen im Leben eines Menschen  eine bestimmte Zeit zu. Es sei mir erlaubt, angesichts des Todes von Charlotte Veiders diese Aussagen noch etwas zu konkretisieren:

Es gibt eine Zeit des frohen menschlichen Miteinanders und eine Zeit des Gedenkens und Erinnerns.

-         Gerade viele ehemalige Kolleginnen und Kollegen haben Charlotte bei unserem vorletzten Treffen in Neuss zwar schon gezeichnet von ihrer schweren Krankheit, aber doch zuversichtlich in die Zukunft blickend erlebt. Fotos, die sie in angeregtem Gespräch mit Kollegen zeigen, bezeugen dies.
-         Bei unserem letzten Treffen in Brühl  konnte sie wegen ihres Krankenhausaufenthalts nicht dabei sein. Aber unsere Gedanken waren bei ihr.
-         Genau für den heutigen Tag war unser nächstes Treffen geplant, das allerdings nun in ganz anderer Form stattfindet, als es vorgesehen war: Charlotte hat diese Welt am 11.12.2016  verlassen, ihre Zeit hat sich erfüllt. An uns ist es, heute sich eines Menschen zu erinnern, der viele Spuren hinterlassen hat bei Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schülern und – ich wage es zu sagen – bei allen Menschen, die ihr begegnet sind.

Ich hatte das Glück, 35 Jahre mit ihr als Kollegin zusammenarbeiten zu dürfen. Sehr bald schon entdeckten wir unser gemeinsames Interesse an Geschichte, Entwicklung und Pflege von Sprache. Sie war eine Philologin im wahrsten Sinne des Begriffs, eine Freundin des Wortes. Es war ein Genuss immer wieder ihren treffsicheren Formulierungen in von ihr verfassten Texten, in Beurteilungen oder auch persönlichen Briefen begegnen zu dürfen. Sie war belesen, und wie oft konnten Freunde und Schüler von ihren Erfahrungen im Bereich der Literatur und des Theaters profitieren.
Mit sehr viel Einfühlung hat sie besonders die jungen Schüler versucht fürs Lesen zu begeistern, nicht zuletzt durch ihre Förderung des Lesewettbewerbs auch noch über ihre Pensionierung. Damit hat sie aber auch in starkem Maße dazu beigetragen, Fünft- und Sechstklässlern den Übergang von der Grundschule zum Gymnasium zu erleichtern.
Als Beratungslehrerin, eine Tätigkeit, die sie von 1976 bis zu ihrer Pensionierung ausübte, hat sie die Schülerinnen und Schüler der ihr anvertrauten Jahrgänge unter großem persönlichen Einsatz zum Abitur geführt. Bei Problemen suchte sie im Gespräch zusammen mit ihren Schülern nach Lösungen. Dabei kam ihr ein ganz besonderer Wesenszug zugute: Sie konnte zuhören und ließ sich nie zu vorschnellen Urteilen hinreißen. Sich selbst in den Vordergrund zu stellen, war sowieso nie eine Sache von Charlotte. Sicherlich haben das auch ihre Kolleginnen und Kollegen an ihr geschätzt, die sie über viele Jahre in den Lehrerrat und in die Schulkonferenz gewählt haben.
Doch auch in vielen anderen Bereichen hat sich Charlotte Veiders für das frühere Kreisgymnasium, dasheutige Erasmusgymnasium engagiert. Es war ihre Schule, an der ihre spätere profunde Bildung grundgelegt wurde, die sie dann als begeisterte Lehrerin an ihre Schüler bemüht war weiterzugeben.

So hat alles seine Zeit:

-         vergangen ist die Zeit der persönlichen Begegnung mit Charlotte,
-         vergangen die Zeit der sorgenvollen Gedanken um den Gesundheitszustand von Charlotte,
-         jetzt ist die Zeit des Erinnerns an Charlotte, einen Menschen,  der – davon bin ich fest überzeugt – bei allen, die ihr begegnet sind, tiefe Eindrücke hinterlassen hat.

In dieser Erinnerung wird Charlotte Veiders bei uns allen weiterleben.

Paul Georg Wachten
 





Sehr gehrte Frau Veiders,

Meines Wissens nach müssten wir beiden uns in den letzten zwölf Jahren mehrere hundert Briefe geschrieben haben - und mit tiefstem Bedauern muss Ich Ihnen heute mitteilen, dass dies wohl mein letzter Brief an Sie sein wird.
Immer schon wollte Ich Ihnen einmal beschreiben, wie Ich mir selbst einen schönen Lebensabend mit Ihnen vorstellen würde. Nach einem langem Theaterabend im Akademietheater in Wien, kehrt man mit Ihnen im Cafe Hawelka in der Dorotheergasse ein. Sie sind gerade 95 geworden und Ich gehe bereits auf die 60 zu. Der Kellner bringt Ihnen Melange und mir einen Espresso. Wir essen Buchteln gefüllt mit heißer Pflaumenmarmelade. In ihrer linken Hand halten Sie eine Marlboro Light, mit der rechten nehmen Sie einen großen Schluck aus der Milchkaffeetasse. Sie halten inne, „also, dass muss Ich schon so sagen, was die Inszenierung des Stückes angeht...“, kurze Pause, es tut sich ein unendlich breites Grinsen vor einem auf und ihre Augen strahlen in Anbetracht der Vorfreude auf eine lange und angeregte Diskussion. So fahren Sie fort und ehe es sich versieht hat man sich über mehrere Stunden mit ihnen angeregt unterhalten. So zumindest habe Ich mir immer die bestmöglichste aller Welten vorgestellt, wenn Sie und Ich im hohen Alter als Nachbarn und Freunde nach Wien gezogen sind, um dort den Lebensabend ausklingen zu lassen.
Neben mir dürfte es an diesem Tag des Abschieds viele Personen geben, welche sich bestimmte Unternehmungen mit Ihnen in der Zukunft noch gewünscht hätten. Zeit mit Frau Veiders zu verbringen, war immer etwas auf das man sich freuen konnte, war es doch auch für einen selbst stets erfüllend.
Wie großartig wäre eine letzte, große generationsübergreifende Wienfart mit all Ihren ehemaligen Schülern und Kollegen gewesen. Ganze Biergärten und Theatersäle hätten sich mit begeisterten Veiders-Anhängern füllen lassen.
Zufall ist was einem zufällt wie Sie immer zu sagen pflegten. Und was mir und uns allen zufiel, war das Glück, Sie gekannt haben zu dürfen. Neben mir zählen auch viele andere Sie heute zu einer Wahlverwandten, welche über die Jahre hinweg ein Teil vieler Familien geworden ist – und nicht nur, dass das führen häufiger Telefonate mit Ihnen für alle nun nicht mehr möglich ist – Viele Familienfeste und Feiertage werden um einiges einsamer sein, ohne den Besuch und das Lachen von Charlotte.
Besonders bei Ihnen bedanke Ich mich jedoch dafür, dass Sie und Ich auf Literatur- und Theaterwissenschaft aufbauend einen außerhalb der Zeit stehenden Dialog gepflegt haben, unabhängig von Herkunft oder Alter. Wenn auch selbst Sie es nicht immer vermochten, mich dazu zu motivieren, meine Hausaufgaben für die Schule zu erledigen, so lehrten Sie mich doch die Vorzüge der Autodidaktik, indem Sie mir Bücher zu lesen gaben, welche mich nicht nur interessierten, sondern mich auch Richtung und Erkenntnis lehrten.
Früh zeigten Sie mir Rilkes archaischen Torso Apolls, welcher mich erkennen ließ, dass Ich mein Leben ändern müsse. Und während unserer Spaziergänge in der algerischen Küstenstadt Oran veranschaulichten Sie mir, weshalb das klare und ausdrucksstarke französisch Camus für das Verständnis des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen essentiell sei. Die Großartigkeit des Austausches mit Ihnen konnte sich jedoch auch in seiner Umkehrung ausdrücken. Gemeinsam mit Ihnen schweigen zu können, als Verschwörer gegen eine Welt, welche das sowohl als auch Goethes nicht kannte. Und so gingen wir zu Ostern schweigend in Frankfurt spazieren. Wobei uns das absurde Kafkas stets auf Schritt und Tritt folgte, selbst in den Trümmern Berlins und Kölns.
Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen in Ihr Gegenüber gehörte zu Ihren großen Talenten. Scharfer Verstand, Offenheit für Ideen und eine Fähigkeit sich genuin für den anderen zu interessieren, ließ Sie über Landesgrenzen und Generationen hinweg Inseln der Freundschaft bauen. Personen, welche sich vielleicht im Alltag aus dem Weg gegangen wären, wurden in kürzester Zeit in ihrem Beisein zu Freunden. Ihr ehrliches Interesse an einem, gab stets das Gefühl, etwas besonderes zu sein. Und so mag es viele verschiedene Freundschaften zu Ihnen gegeben haben, so dass ein jeder seinen eigenen Geheimbund mit Ihnen pflegte und genoss - und doch gibt es die gemeinsame Freundschaft zu Ihnen, welche uns heute hier zusammenkommen lässt.
Charlotte -  Frau Veiders. Es war mir mehr als ein Vergnügen, dass Sie über die Jahre hinweg mir und allen anderen immer beistanden, es war mir aber auch eine Ehre, Ihnen in Krankheit und Kummer beistehen zu dürfen. Vielen Dank für Ihr Vertrauen und Ihre Freundschaft. 
Sie kreisten um Gott, um den uralten Turm; und Sie kreisten jahrtausendelang; und Ich weiss es bis heute nicht, waren Sie ein Falke, ein Sturm, oder ein großer Gesang.

J-W.Scholz





Anschließend wurde Charlottes Asche auf der Wiese des Friedhofs in Elsen versteut. Die Meisten von uns haben dieser Art der Bestattung zum ersten Mal beigewohnt.








Charlotte lebt in unserer Erinnerung weiter.