Unser erstes Treffen in 2017 fand wie immer am festgelegten Termin statt, dem 2. Dienstag in einem ungeraden Monat. Jedoch fuhren wir heute nicht - wie bei unserem letzten Treffen angekündigt - nach Solingen, sondern wir trafen uns in Grevenbroich, um uns von Charlotte Veiders ein letztes Mal zu verabschieden.
Die Totenfeier in der Christuskirche, bei der Liane Erdmann Westerhoff die Orgel spielte, wurde geprägt durch die Abschiedsreden von Paul Georg Wachten und Julian Scholz. Die zum Nachdenken anregenden und sehr bewegenden Worte, sind im folgenden noch einmal nachzulesen:
Kohelet 3, 1 – 8.
Alles hat seine
Stunde. Für jedes Geschehen unter dem
Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum
Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum
Abernten der Pflanzen,
eine Zeit zum
Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum
Bauen,
eine Zeit zum
Weinen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz,
eine Zeit zum
Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine
Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum
Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum
Wegwerfen,
eine Zeit zum
Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennnähen, eine Zeit zum Schweigen und eine
Zeit zum Reden,
eine Zeit zum
Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den
Frieden.
Liebe
Trauergemeinde,
Der Verfasser
des Buches Kohelet im Alten Testament, aus dem der soeben zitierte Text
stammt, weist jedem Geschehen im Leben
eines Menschen eine bestimmte Zeit zu. Es
sei mir erlaubt, angesichts des Todes von Charlotte Veiders diese Aussagen noch
etwas zu konkretisieren:
Es gibt eine Zeit des frohen menschlichen
Miteinanders und eine Zeit des Gedenkens und Erinnerns.
-
Gerade
viele ehemalige Kolleginnen und Kollegen haben Charlotte bei unserem vorletzten
Treffen in Neuss zwar schon gezeichnet von ihrer schweren Krankheit, aber doch
zuversichtlich in die Zukunft blickend erlebt. Fotos, die sie in angeregtem
Gespräch mit Kollegen zeigen, bezeugen dies.
-
Bei
unserem letzten Treffen in Brühl konnte
sie wegen ihres Krankenhausaufenthalts nicht dabei sein. Aber unsere Gedanken
waren bei ihr.
-
Genau
für den heutigen Tag war unser nächstes Treffen geplant, das allerdings nun in
ganz anderer Form stattfindet, als es vorgesehen war: Charlotte hat diese Welt
am 11.12.2016 verlassen, ihre Zeit hat
sich erfüllt. An uns ist es, heute sich eines Menschen zu erinnern, der viele
Spuren hinterlassen hat bei Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schülern
und – ich wage es zu sagen – bei allen Menschen, die ihr begegnet sind.
Ich hatte das
Glück, 35 Jahre mit ihr als Kollegin zusammenarbeiten zu dürfen. Sehr bald
schon entdeckten wir unser gemeinsames Interesse an Geschichte, Entwicklung und
Pflege von Sprache. Sie war eine Philologin im wahrsten Sinne des Begriffs,
eine Freundin des Wortes. Es war ein Genuss immer wieder ihren treffsicheren
Formulierungen in von ihr verfassten Texten, in Beurteilungen oder auch
persönlichen Briefen begegnen zu dürfen. Sie war belesen, und wie oft konnten Freunde
und Schüler von ihren Erfahrungen im Bereich der Literatur und des Theaters profitieren.
Mit sehr viel
Einfühlung hat sie besonders die jungen Schüler versucht fürs Lesen zu
begeistern, nicht zuletzt durch ihre Förderung des Lesewettbewerbs auch noch
über ihre Pensionierung. Damit hat sie aber auch in starkem Maße dazu
beigetragen, Fünft- und Sechstklässlern den Übergang von der Grundschule zum
Gymnasium zu erleichtern.
Als
Beratungslehrerin, eine Tätigkeit, die sie von 1976 bis zu ihrer Pensionierung
ausübte, hat sie die Schülerinnen und Schüler der ihr anvertrauten Jahrgänge
unter großem persönlichen Einsatz zum Abitur geführt. Bei Problemen suchte sie
im Gespräch zusammen mit ihren Schülern nach Lösungen. Dabei kam ihr ein ganz
besonderer Wesenszug zugute: Sie konnte zuhören und ließ sich nie zu
vorschnellen Urteilen hinreißen. Sich selbst in den Vordergrund zu stellen, war
sowieso nie eine Sache von Charlotte. Sicherlich haben das auch ihre
Kolleginnen und Kollegen an ihr geschätzt, die sie über viele Jahre in den
Lehrerrat und in die Schulkonferenz gewählt haben.
Doch auch in
vielen anderen Bereichen hat sich Charlotte Veiders für das frühere
Kreisgymnasium, dasheutige Erasmusgymnasium engagiert. Es war ihre Schule, an
der ihre spätere profunde Bildung grundgelegt wurde, die sie dann als
begeisterte Lehrerin an ihre Schüler bemüht war weiterzugeben.
So hat alles
seine Zeit:
-
vergangen
ist die Zeit der persönlichen
Begegnung mit Charlotte,
-
vergangen
die Zeit der sorgenvollen Gedanken
um den Gesundheitszustand von Charlotte,
-
jetzt
ist die Zeit des Erinnerns an
Charlotte, einen Menschen, der – davon
bin ich fest überzeugt – bei allen, die ihr begegnet sind, tiefe Eindrücke
hinterlassen hat.
In dieser
Erinnerung wird Charlotte Veiders bei uns allen weiterleben.
Paul Georg Wachten
Meines Wissens nach müssten wir
beiden uns in den letzten zwölf Jahren mehrere hundert Briefe geschrieben haben
- und mit tiefstem Bedauern muss Ich Ihnen heute mitteilen, dass dies wohl mein
letzter Brief an Sie sein wird.
Immer schon wollte Ich Ihnen
einmal beschreiben, wie Ich mir selbst einen schönen Lebensabend mit Ihnen
vorstellen würde. Nach einem langem Theaterabend im Akademietheater in Wien,
kehrt man mit Ihnen im Cafe Hawelka in der Dorotheergasse ein. Sie sind gerade
95 geworden und Ich gehe bereits auf die 60 zu. Der Kellner bringt Ihnen
Melange und mir einen Espresso. Wir essen Buchteln gefüllt mit heißer
Pflaumenmarmelade. In ihrer linken Hand halten Sie eine Marlboro Light, mit der
rechten nehmen Sie einen großen Schluck aus der Milchkaffeetasse. Sie halten
inne, „also, dass muss Ich schon so sagen, was die Inszenierung des Stückes
angeht...“, kurze Pause, es tut sich ein unendlich breites Grinsen vor einem
auf und ihre Augen strahlen in Anbetracht der Vorfreude auf eine lange und
angeregte Diskussion. So fahren Sie fort und ehe es sich versieht hat man sich
über mehrere Stunden mit ihnen angeregt unterhalten. So zumindest habe Ich mir
immer die bestmöglichste aller Welten vorgestellt, wenn Sie und Ich im hohen
Alter als Nachbarn und Freunde nach Wien gezogen sind, um dort den Lebensabend
ausklingen zu lassen.
Neben mir dürfte es an diesem Tag
des Abschieds viele Personen geben, welche sich bestimmte Unternehmungen mit
Ihnen in der Zukunft noch gewünscht hätten. Zeit mit Frau Veiders zu
verbringen, war immer etwas auf das man sich freuen konnte, war es doch auch
für einen selbst stets erfüllend.
Wie großartig wäre eine letzte,
große generationsübergreifende Wienfart mit all Ihren ehemaligen Schülern und
Kollegen gewesen. Ganze Biergärten und Theatersäle hätten sich mit begeisterten
Veiders-Anhängern füllen lassen.
Zufall ist was einem zufällt wie
Sie immer zu sagen pflegten. Und was mir und uns allen zufiel, war das Glück,
Sie gekannt haben zu dürfen. Neben mir zählen auch viele andere Sie heute zu
einer Wahlverwandten, welche über die Jahre hinweg ein Teil vieler Familien
geworden ist – und nicht nur, dass das führen häufiger Telefonate mit Ihnen für
alle nun nicht mehr möglich ist – Viele Familienfeste und Feiertage werden um
einiges einsamer sein, ohne den Besuch und das Lachen von Charlotte.
Besonders bei Ihnen bedanke Ich
mich jedoch dafür, dass Sie und Ich auf Literatur- und Theaterwissenschaft
aufbauend einen außerhalb der Zeit stehenden Dialog gepflegt haben, unabhängig
von Herkunft oder Alter. Wenn auch selbst Sie es nicht immer vermochten, mich
dazu zu motivieren, meine Hausaufgaben für die Schule zu erledigen, so lehrten
Sie mich doch die Vorzüge der Autodidaktik, indem Sie mir Bücher zu lesen
gaben, welche mich nicht nur interessierten, sondern mich auch Richtung und
Erkenntnis lehrten.
Früh zeigten Sie mir Rilkes
archaischen Torso Apolls, welcher mich erkennen ließ, dass Ich mein Leben
ändern müsse. Und während unserer Spaziergänge in der algerischen Küstenstadt
Oran veranschaulichten Sie mir, weshalb das klare und ausdrucksstarke
französisch Camus für das Verständnis des auf sich selbst zurückgeworfenen
Menschen essentiell sei. Die Großartigkeit des Austausches mit Ihnen konnte
sich jedoch auch in seiner Umkehrung ausdrücken. Gemeinsam mit Ihnen schweigen
zu können, als Verschwörer gegen eine Welt, welche das sowohl als auch Goethes
nicht kannte. Und so gingen wir zu Ostern schweigend in Frankfurt spazieren.
Wobei uns das absurde Kafkas stets auf Schritt und Tritt folgte, selbst in den
Trümmern Berlins und Kölns.
Fingerspitzengefühl und
Einfühlungsvermögen in Ihr Gegenüber gehörte zu Ihren großen Talenten. Scharfer
Verstand, Offenheit für Ideen und eine Fähigkeit sich genuin für den anderen zu
interessieren, ließ Sie über Landesgrenzen und Generationen hinweg Inseln der
Freundschaft bauen. Personen, welche sich vielleicht im Alltag aus dem Weg
gegangen wären, wurden in kürzester Zeit in ihrem Beisein zu Freunden. Ihr
ehrliches Interesse an einem, gab stets das Gefühl, etwas besonderes zu sein.
Und so mag es viele verschiedene Freundschaften zu Ihnen gegeben haben, so dass
ein jeder seinen eigenen Geheimbund mit Ihnen pflegte und genoss - und doch
gibt es die gemeinsame Freundschaft zu Ihnen, welche uns heute hier
zusammenkommen lässt.
Charlotte - Frau Veiders. Es war mir mehr als ein
Vergnügen, dass Sie über die Jahre hinweg mir und allen anderen immer
beistanden, es war mir aber auch eine Ehre, Ihnen in Krankheit und Kummer
beistehen zu dürfen. Vielen Dank für Ihr Vertrauen und Ihre Freundschaft.
Sie kreisten um Gott, um den
uralten Turm; und Sie kreisten jahrtausendelang; und Ich weiss es bis heute
nicht, waren Sie ein Falke, ein Sturm, oder ein großer Gesang.
J-W.Scholz
Anschließend wurde Charlottes Asche auf der Wiese des Friedhofs in Elsen versteut. Die Meisten von uns haben dieser Art der Bestattung zum ersten Mal beigewohnt.
Charlotte lebt in unserer Erinnerung weiter.